Zurück das Ganze. Ein Filmprojekt
[Diesen Artikel habe ich für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift schmalfilm geschrieben, daher so länglich...]
Irgendwann einmal fand ich in einem bei Ebay erstandenen Film-Konvolut einen offenbar nicht zurückgespulten Film. Die Perforation befand sich auf der falschen Seite. Etwas verwundert drehte ich ihn einfach um 180° und ließ ihn zum Sichten durch den Projektor laufen. Was ich dabei sah stand Kopf und lief rückwärts. In diesem Moment entstand die Idee: Ich werde einen Film rückwärts drehen.
Wie das?
Nur wenige Filmkameras erlauben echtes Rückwärtsfilmen. Meine Nikon R10 kann es nur in der Kassettenmitte und nur für kurze, einzelne Szenen, eine vernünftige Single-8-Kamera besitze ich nicht, und die Bolex H16 sieht es auch nicht vor.
Stellt man sich aber einen kurzen Streifen Film vor, dessen Einzelbilder von oben nach unten verlaufen, so kann man sich leicht vorstellen, was passiert, wenn man den Streifen um die horizontale Achse wendet: Die Handlung läuft rückwärts, alle Bilder stehen aber auf dem Kopf.
Wenn man nun aber schon beim Filmen die Kamera auf den Kopf stellt, wird ein so gewendeter Film beim Betrachten weiterhin rückwärts laufen, die Bilder erscheinen dann aber aufrecht.
Links eine Szene – von oben nach unten – in Aufnahmereihenfolge. Die Nudeln fallen in den Topf, die Kamera stand Kopf. Rechts dieselbe Szene, nachdem der Film gewendet wurde: Die Nudeln hüpfen auf die Gabel, das Bild steht nicht mehr Kopf.
Meine Nizo 4080 hat zur Befestigung des Mikrofons eine Stativschraube auf der Oberseite, was sich hierfür als praktisch erwiesen hat. Es lassen sich aber auch viele Stative so umbauen, dass die Kamera „hängend“ montiert werden kann. Ein Filmen aus der freien Hand mit einer umgedrehten Kamera wäre im Interesse ruhiger Kameraführung wohl nicht sonderlich empfehlenswert.
Planung
Die Idee war, die Darsteller Szene für Szene komplett rückwärts agieren zu lassen, sodass nach der „Wendung“ des Filmes eine Handlung in natürlicher Richtung zu sehen ist. Die Würze sollte dadurch entstehen, dass sich einige Dinge nicht rückwärts darstellen lassen (Sprung ins Wasser, Rauchentwicklung, Holzhacken etc.) und so entsprechend sonderbar auf den Zuschauer wirken.
Zunächst sammelte ich lose und stichwortartig Ideen für einfache Szenen, die rückwärts dargestellt ungewöhnlich wirken würden. Ein Auszug dieser Liste:
- Autofahrt
- Zähneputzen
- Duschen
- Spaghetti essen
- Holzhacken
- Stolpern
- Schwimmen
- Fußballspielen
- Skat spielen
- Tanzen
- Sprung aus einem Baum
- Sandburg bauen usw.
Schnell ergab sich aus diesem Sammelsurium der Rahmen: Dokumentation eines Tagesablaufs. Das Drehbuch „begann“ mit dem Aufwachen, den Aktivitäten des Tages und „endete“ wieder mit dem Zubettgehen. So ließen sich die meisten der geplanten Szenen einigermaßen schlüssig unterbringen.
Nachdem ich die angedachten Szenen in eine Abspielreihenfolge gebracht hatte, zäumte ich das Pferd von hinten auf und begann aufzuschreiben, was mein Protagonist vor und ich hinter der Kamera tun müssten, um entsprechend rückwärts zu filmen.
Aus den Szenenideen
28.) Lego bauen
29.) schlafen gehen
wurden dadurch solche Drehanweisungen:
Szene 29
- Aufblenden, nah, auf Gesicht (regungslos)
- langsam in Totale zoomen
- Überblendung auf ...
Szene 28
- Gesicht liegend, nah, langsam wacher werden
- Fokussprung auf Legomodell (nah)
- Nah aufs Legomodell (Fahrt?)
- Halbtotale: Modell auseinanderbauen
- Totale: Modell schnell und grob zerrupfen
- Fett-Überblendung in ...
Szene 27
- Nah: Geld liegt gesammelt im Hemd
- Halbtotale: Geld wird herausgeschleudert usw.
Der Dreh
Gedreht wurde auf viereinhalb Kassetten Kodak-Plus-X- Schwarzweissmaterial mit besagter Braun Nizo 4080, szenenweise auch dramatisierend mit einer UWL-III-Vorsatzlinse von Schneider Kreuznach. Auf Liveton lege ich selten Wert, die cartoon-ähnliche Erzählweise des Stummfilms mit vielen kurzen, additiven Sequenzen mag ich sehr.
Protagonist war ein experimentierfreudiger Freund, der sich für keinen Quatsch zu schade ist und bereitwillig und gekonnt alles mitgemacht hat. Abgedreht wurde alles in wenigen Stunden im Rahmen eines entspannten Ferienhauswochenendes mit Freunden in Deutschlands höchstem Norden. Der Rest der Truppe stellte Komparsen und Assistenz; so machte zum Beispiel das kurze Fußballspiel (bei dem der Torwart dramatisch liegend jemand rückwärts Laufendem den Ball vor die Füße werfen musste, um gleich danach aufzuspringen) großen Spaß.
Das Ergebnis
Das Ergebnis ist so vielversprechend wie enttäuschend. Leider beschloss ich, diesmal nicht selbst zu entwickeln (es könnte ja etwas schiefgehen, und die fünf Filme sollten doch mit identischem Bildcharakter entwickelt werden). Der von mir blauäugig gewählte Dienstleister aus Brühl hat mich nicht nur wochen- und schließlich sogar monatelang vertröstet und warten lassen, er hat die Filme auch stillschweigend vollständig versaut. Das Ergebnis seiner „professionellen Entwicklung“ sind vollkommen flaue, viel zu helle Positive ohne jegliche Zeichnung in Lichtern und Schatten, die zu allem Überfluss auch noch mit einem braunen Schlierenfilm überzogen sind, der unauslöschbar durchs Bild tanzt. Auch nachträgliche Klär- und Antihalobäder in der heimischen Dunkelkammer haben kaum Abhilfe bringen können – die Filme sind verloren und taugen allemal als grobes Skizzenbuch.
Seit diesem frustrierenden Erlebnis wird von mir dort nicht einmal mehr Druckluft bestellt und es gibt nur noch Selbstverarbeitung, Frank Bruinsma oder Andec Film. Hätte ich doch bloß vorher ein paar der Erfahrungsberichte anderer Opfer gelesen.
Allerdings ist der Film auch deutlich langweiliger als geplant geworden. Ein Großteil der rückwärts gespielten Szenen sieht rückwärts betrachtet nämlich völlig normal und natürlich aus, zum Beispiel das Aufstehen, Duschen, Essen, Anziehen oder auch ganz allgemein das Gehen. Damit hätte ich nie gerechnet; hätte erwartet, die doppelte Umkehrung sorgt für groteske Bewegungsabläufe und damit Unterhaltung und Spannung. Auch waren einige Szenen einfach zu detailabhängig, um zu funktionieren – dass eine Zigarette immer länger wird und Rauch einzieht, muss dem Zuschauer erst einmal auffallen. Bei der genauen Planung war mir leider nicht klar, dass nicht jede Szenenidee in beide Richtungen gleichkomisch wirkt. Viel zu oft habe ich doppelt umgedreht, die einfache Umkehr der Zeitrichtung birgt sehr viel mehr Potenzial für Witz.
Bewährt haben sich aber Szenen, in denen die Schwerkraft oder andere unumkehrbare Naturgesetze der doppelten Umkehr ein Schnippchen schlagen. Aus der Hocke 4 m hoch in einen Baum zu springen, um dort ein Bier zu pflücken, beeindruckt das Auge genauso sehr wie ein Autofahrer, der Hindernisse sauber umfährt, obwohl er dabei ohne Pause durch die Heckscheibe blickt.
Technische Schwierigkeiten
Gewendeter Film lässt sich nicht mit normal ausgerichtetem zusammenschneiden, da die Schichtseite wechselt und ein Nachfokussieren bei jedem Szenensprung erforderlich machen würde. Man muss also ganz oder gar nicht rückwärts filmen.
Der Drall des gewendeten Filmes ist falsch rum, der Film möchte sich ständig von seiner Spule abrollen. Hier hilft nur, das lose Ende beim Lagern an der Spule festzuklemmen und Geduld zu haben – nach ein paar Monaten hat der Film sich an seine Aufwickelrichtung gewöhnt. Bis dahin muss man beim Einspulen an der Fangspule meist ein wenig nachhelfen.
Der letztendlich gezeigte Film ist seitenverkehrt. Wer dadurch gestört ist oder viel mit Text im Bild arbeitet, sollte durch einen Spiegel filmen, um das zu kompensieren.
Fazit
Ich möchte diese Idee unbedingt noch einmal richtig gut umsetzen, sobald ich mal wieder Zeit und Budget für neue Filme, Planung und Umsetzung finde.
Diesmal wird genauer geplant und akribisch jede Erkenntnis aus dem doppelt verhunzten Erstversuch zum Leitfaden gemacht:
- Doppelte Richtungsumkehr allein sorgt für kaum einen erkennbaren oder sehenswerten Effekt
- Naturgesetze allein umgekehrt wirken enorm gut
- Eine durchdachte, kurzweilige Handlung ist nötig, um der Aneinanderreihung von Effekten eine Basis zu geben, sonst wird es trotz allem langweilig
- Text im Bild wird vermieden oder durch Spiegel gefilmt
- Entwickelt wird selbst oder beim Profi!